Natürlich rückblickend gesprochen. Er geht ja immer betont rational und analytisch vor. Unser Sherlock Holmes. Wir kennen ihn – auch ohne die Bücher gelesen zu haben. Ganz bestimmt. Da braucht es keine weiteren Erklärungen. Denn mehr als 200 Filme, die von rund 70 verschiedenen Schauspielern gespielt werden, handeln von dem distinguierten Detektiv. Nicht schlecht. Oder mit anderen Worten: Sherlock Holmes erscheint in mehr Filmen als jede andere fiktionale Figur. Wir erkennen ihn in Theaterstücken, Musicals, Hörspielen, TV-Serien, Comics, Cartoons und sogar in einem Ballett. Und ja, all die Pastiches über Holmes und Watson dürfen wir auch nicht vergessen. Logisch also, dass ihn das Guinness Buch der Rekorde als den am meisten porträtierten Filmcharakter der Geschichte listet.
56 Novellen und drei Romane über Holmes und Watson folgen auf «A Study in Scarlet». Nicht nötig zu erwähnen, dass sie ihren Schöpfer Sir Arthur Ignatius Conan Doyle (1859-1930) zu einem der erfolgreichsten Autoren seiner Zeit machen. Die Geschichten schreibt er zwischen 1886 und 1927.
Zumindest denken das 58 Prozent der Briten bei einer Umfrage des UKTV Gold aus dem Jahr 2008. Dieser Meisterdetektiv ist ja auch omnipräsent. Das kann uns schon mal verwirren. Winston Churchill hingegen kommt weniger gut hinweg: 23 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass der britische Staatsmann eine fiktionale Figur gewesen ist. Na ja, da geben wir jetzt keinen Kommentar über das englische Bildungssystem ab, sondern loben vielmehr die Art und Weise, wie Conan Doyle Leben in seine Geschichten einhauchen konnte.
…oder wieso Meiringen in den Herzen der meisten Holmesianer einen besonderen Platz einnimmt.
Enttäuschte Leser in London binden sich schwarze Schleifen um den Oberarm oder knüpfen schwarze Krawatten um. Über 20 000 Kunden kündigen das Abonnement von «The Strand» – dem Magazin, in dem die Sherlock Holmes Geschichten erscheinen. Ein Leser schreibt sogar direkt an Conan Doyle: «You Brute!». Der Autor kann zweifelsohne froh sein, dass es zu dieser Zeit noch keine sozialen Medien gibt. Was hätte das für einen Shitstorm ausgelöst. Dislike. Daumen nach unten. Und klar: Queen Victoria ist auch «not amused». Doch was ist passiert?
«The Final Problem», die letzte Geschichte in der Anthologie «The Memoirs of Sherlock Holmes», erscheint in der Dezember-Ausgabe von «The Strand». Das tönt doch schon mal gut. Aber eben: Am Anfang der Geschichte posiert eine Illustration von Sherlock Holmes und Professor Moriarty. Beide verstrickt in eine tödliche Umarmung beim Reichenbachfall – mit der Überschrift: «The Death of Sherlock Holmes». Ok. Zugegeben. Das ist unerwartet. Mehr als ein ungläubiges «Whaaat?» wäre bei uns wohl auch nicht mehr rausgekommen.
Sidney Paget (1860-1908) illustriert die Bilder von Sherlock Holmes in «The Strand». Vorbild soll angeblich sein jüngerer Bruder gewesen sein. Das bestreitet aber sein älterer Bruder vehement. Nun denn, vielleicht ist ja da auch ein bisschen Eifersucht im Spiel. Wie dem auch sei, die karierte Schirmmütze (Deerstalker), die Holmes auf zahlreichen Bildern trägt, geht auf Pagets Vorliebe für eben diese Mütze zurück. Sieht ja auch elegant aus. Conan Doyle hingegen beschreibt sie nur einmal in «Silver Blaze» als «an ear flapped traveling cap». Der Rest stammt vom britischen Illustrator.
Sidney Paget fertigt insgesamt 356 Zeichnungen für 37 Kurzgeschichten und den Roman «The Hound of the Baskervilles» an.
Die Antwort ist ziemlich einfach: Conan Doyle möchte lieber historische Romane und seriösere Abhandlungen schreiben. Doch dieser Sherlock nimmt schlicht zu viel Zeit in Anspruch, da jede einzelne Geschichte eine so klare und originelle Handlung wie ein ganzes Buch braucht. Aber eben: Die Leserschaft will bedingungslos eine neue Serie. Da hilft nur eine List. Conan Doyle verlangt kurzerhand eine Unsumme (Tausend Pfund!) vom «The Strand» für die designierte Serie «The Memoirs of Sherlock Holmes». Natürlich in der Hoffnung, dass die Verantwortlichen absagen. Doch Pech gehabt. Das Magazin zahlt den geforderten Betrag – ohne zu zögern. Glück im Unglück. Ergo ist die logische Konsequenz: Der Tod des Meisterdetektivs. Es gibt schlicht keinen anderen Ausweg. Sherlock Holmes muss weg – und zwar für immer.
Arthur Conan Doyle,
über seine Entscheidung, Sherlock Holmes sterben zu lassen.
Im August 1893 ist er mit seiner an Tuberkulose erkrankten Frau zur Kur dort. Nach einem Besuch des Reichenbachfalls geht alles ziemlich schnell. Die Inspiration fliegt ihm schlicht zu. Der «Napoleon des Verbrechens» wird ins Leben gerufen. Ein machiavellistisches, kriminelles Superhirn. Professor James Moriarty. Holmes’ Alter Ego. Sie werden am Ende von «The Final Problem» am Reichenbachfall kämpfen und in die Tiefe stürzen. Aus. Ende. Vorbei. Problem gelöst.
Conan Doyle steigt im «Hotel zum Wilden Mann», dem heutigen «Parkhotel du Sauvage» ab. 1893 heisst der Besitzer Alexander Seiler – eine mögliche Inspiration für Peter Seiler aus «The Final Problem»?
Damit wir kein Durcheinander mit den Jahreszahlen haben: Conan Doyle besucht Meringen 1893. «The Final Problem» spielt aber zwei Jahre früher: 1891. Einfach so, damit wir Realität und Fiktion auseinanderhalten können. Denn nochmals zur Erinnerung: Conan Doyle hat ja wirklich gelebt, Sherlock Holmes hingegen nicht.
Wie auch immer, Fiktion hin oder her. Für viele Holmesianer ist es in Meiringen immer noch 1891. Und daran wird sich auch nichts ändern. Bestimmt nicht. Denn hier, an diesem schicksalhaften 4. Mai 1891, bricht für sie eine Welt zusammen.
Der temporäre Zusammenbruch einer fiktionalen Welt wird zum Glücksfall für Meiringen.
Da steht er nun. Sherlock Holmes trifft auf Professor Moriarty. Und was macht er? Klar, er schreibt einen letzten Brief an seinen treuen Helfer Dr. John Watson. Hinter ihnen donnert der Reichenbachfall in die Tiefe. Danach ist Schluss. Die Geschichte kennen wir. Sie werden nie gefunden.
Sherlock Holmes kommt schlicht ein paar Jahre zu früh – denn die Schienen der Nostalgiebahn werden erst 1899 gelegt. Sein Erzfeind nützt das natürlich voll aus und lockt Dr. Watson durch eine List zurück nach Meiringen. Der arme Kerl muss natürlich den ganzen Weg laufen. Ganz zur Freude von Professor Moriarty – denn so kann er sich nun ganz ungestört unter vier Augen mit Sherlock Holmes unterhalten.
Es ist übrigens der oberste der drei Wasserfälle, der Conan Doyle mit seinen 120 Metern Höhe als Schauplatz des legendären Kampfes dient. Ein Stern markiert den Platz des Kampfes. Hingegen ist der Reichenbachfall in der TV-Serie mit Benedict Cumberbatch ein Gemälde, bei dessen Wiederbeschaffung Sherlock Holmes federführend ist.
Dr. John Watson,
über den Reichenbachfall, aus «The Final Problem».
Am 25. Oktober um 7.30 Uhr bricht in einem Haus oberhalb der Bierbrauerei im Quartier Stein Feuer aus. Der älteste Haslitaler, der Föhn, lässt sich nicht zweimal bitten und legt die heutigen Quartiere Stein, Meyringen, Eisenbolgen und Hausen in Asche. Wie wäre wohl Sherlock Holmes gestorben, wenn Conan Doyle ein paar Monate später durch Meiringen spaziert wäre?
Ein Tag danach wird die Verwüstung erst klar:
Er ist zurückgekehrt und will in Meiringen bleiben.
Zurück in der Gegenwart müssen wir nur die Augen aufmachen. Das reicht schon. Dann sehen wir ihn. An jeder Ecke. Überall. Sherlock Holmes mit seinem Deerstalker und der Pfeife. Einfach unverkennbar. Auch die absoluten Detektivamateure unter uns sollten mindestens am «Conan Doyle Square» die lebensgrosse Bronzestatue sehen – hoffentlich auch ohne Lupe.
Da wundern wir uns nicht, wieso die Erzählungen von Conan Doyle der Tradition des Realismus zugeordnet werden. Die Beschreibungen sind so ausführlich, dass glatt im Untergeschoss der Englischen Kirche das Arbeitszimmer von Holmes und Watson vorzufinden ist.
Das Sherlock Holmes Museum präsentiert wertvolle Original-Gegenstände, liefert Hintergrundinformationen und gibt interessante Einblicke in die Kriminal- und Polizeigeschichte der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts in London. Da soll noch jemand behaupten, dass dieser Detektiv nicht gelebt hat.
1991 ist es soweit. Sherlock Holmes bekommt sein Museum. Unter dem Patronat der «Sherlock Holmes Society of London» und der Dame Jean Conan Doyle wird in der Krypta der Englischen Kirche das Sherlock Holmes Museum eröffnet. Wann? Natürlich an seinem hundertsten Todestag. Am 4. Mai.
Conan Dolye ist zwar nicht der Erfinder der Detektiv-Geschichten (diese Ehre geht an Edgar Allan Poe), doch seine Figur ist realer als manch eine Person, die wirklich gelebt hat. Eine Figur, die den Tod bezwungen hat und wieder zurückgekehrt ist. Dies wird jedes Jahr am 4. Mai in Meringen überaus deutlich.
Die Methode der Deduktion wendet Sherlock Holmes gemäss Conan Doyle bei seinen Schlussfolgerungen an. Die kennen wir doch. Das ist der «Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere». Dies wäre natürlich auch eine Herangehensweise, um das Haslital zu erkunden. Denn die Gegend bietet «im Allgemeinen» schon sehr viel, doch wenn wir uns bis «zum Besonderen» vorarbeiten, entdecken wir eine wunderbare, fiktive Welt mitten in der realen Bergewelt des Haslitals.
Aber eben. Alles auf Anfang. Wie wusste er das mit Afghanistan? «Elementary, my dear Watson.»
Fotos: Jungfrau Region; Otto Kehrli
Story: André Wellig
Sommer 2019
Tourist Center Meiringen
Bahnhofplatz 12
CH-3860 Meiringen
Tel. +41 33 972 50 50
Fax +41 33 972 51 50