Aus dem engagierten Kampf des Predigers aus England gegen den Dämon Alkohol und den Tabakgenuss resultiert etwas völlig Unerwartetes: Die Pauschalreise.
Das muss doch einfach mal gesagt werden. Ein Herr mittleren Alters, gekleidet im Gehrock, Stehkragen und Zylinder erntet für seine pathetischen Worte begeisterten Beifall. Die Szene spielt sich am 5. Juli 1841 auf dem Bahnsteig des mittelenglischen Städtchens Leicester ab. Die letzten Worte hallen noch in der Luft, als fast 600 Frauen und Männer in die offenen Wagons drängen. Moderne Zugfahrer kennen die Situation: Kaum sind die Türen geöffnet, gilt das Recht des Stärkeren. Zahn um Zahn, Ellenbogen um Ellenbogen. Der Zug könnte ja ohne Gäste abfahren.
Das Ziel ist Loughborough, elf Meilen nördlich von Leicester. Diese illustre Gesellschaft tritt etwas ganz Eigenartiges an: Einen Eisenbahnausflug ins Grüne.
Ausgedacht hat sich den Eisenbahnausflug Thomas Cook, ein gelernter Drechsler, Drucker und Verleger religiöser Schriften sowie ein enthusiastischer Laienprediger für die Baptisten – und Gründer der heutigen «Thomas Cook Group».
Eisenbahnen gibt es erst seit 15 Jahren und die meisten Briten sind noch nie damit gefahren. Das nächste Städtchen erreichen die einfachen Leute zu Fuss, finanziell etwas besser Gestellte mit der Pferdekutsche – aber fast immer mit einem klaren Ziel vor Augen.
Da stehen sie nun: die neu entwickelten Kräfte der Eisenbahnen und die damit verbundenen neuen Reisemöglichkeiten. Für was können wir die wohl brauchen? Holen wir doch mit Hilfe der Eisenbahnen die Arbeiter aus den verqualmten Pubs und bringen sie in die freie Natur. Gute Idee, Herr Cook. Gesagt, getan. Thomas Cook setzt sich damit unermüdlich für die Ausbreitung des Abstinenzgedankens ein. Er bietet Bahntickets zum Preis von nur einem Schilling an, welche die Hin- und Rückfahrt sowie ein Brötchen und eine Tasse Tee beinhalten. Tja, da haben wir sie, die Vorläuferin der Pauschalreise. Die Nachfrage ist enorm. Logische Konsequenz: Weitere Angebote werden geschaffen – darunter bekanntlich auch die Reise durch die Schweiz.
Weder schnell noch komfortabel ist das Reisen in den vergangenen Jahrhunderten. Von einem erholsamen Urlaub ist überhaupt nicht die Rede. So geht es in der Antike vor allem darum, Kultstätten aufzusuchen. Vornehme Ägypter reisen zu berühmten Monumenten wie die Stufenpyramide von Sakkara…
…betuchte Griechen wiederum besuchen die Pythischen Spiele in Delphi wie hier den Apollon-Tempel (Dieser sah dazumal noch ein bisschen anders aus)…
…oder erlauchte Römer verlassen auf der Suche nach der kühlen Sommerfrische die Stadt Rom.
Ein weitläufiges Strassennetz wie zur Blütezeit des Römischen Reiches gibt es bei fortgeschrittenen europäischen Staaten erst seit dem 18. Jahrhundert. Und aufgepasst, die Strassen in Rom sind natürlich vorwiegend für die römischen Legionen gemacht – der Zivilverkehr hat darauf keinen Vortritt.
Die erste geführte Tour bringt die Reisegruppe mit Dampfschiff und Eisenbahn in die westlichen Alpen. Von dort geht’s mit Maultieren, Postkutschen und zu Fuss von Chamonix übers Wallis bis ins Berner Oberland weiter.
Cook ist ein erfahrener Mann. Keine Frage. Doch die Reise in die Schweiz ist eine ganz neue Herausforderung: Keine Bergbahnen, lückenhaftes Transportwesen und eine unverständliche Sprache. Eine Postkutsche wählt er als Reisemittel. Wenn es aber irgendwo den Berg hinaufgehen soll (ist ja in der Schweiz noch häufig der Fall), dann sollen Träger und Führer angeheuert werden. Ist ja auch klar, der Bau des Eisenbahnnetzes steht erst in den Anfängen und Bergbahnen, na ja, von denen gibt’s überhaupt keine. Trotzdem geht’s am 26. Juni 1863 in London los. Ein sehr exotisches Abenteuer wartet.
Sämtliche Reiskosten wie Hotels, Kutschen, Dampfschiff sind im Pauschalpreis inbegriffen. Nur die Auslagen für Souvenirs müssen die Reisenden selber begleichen. Sie haben «Switzerland with cheaptickets to Mont Blanc» gebucht.
Thomas Cooks Reisegesellschaft reist 1863 ins Armenhaus Europas, in dem Bettler und schmutzige Gestalten ihr Unwesen treiben. Wohlstand, Sauberkeit und Pünktlichkeit gehören der Zukunft an.
15 Jahre vor der ersten Pauschalreise durch die Schweiz wütet im Land ein Bürgerkrieg. Der Sonderbundskrieg vom November 1847. Politische und wirtschaftliche Wirren bestimmen den Alltag.
Ein Arbeiter verdient pro Tag höchstens CHF 1.50. Da soll jetzt nicht der Stundenansatz ausgerechnet werden. Damit kann er sich ein Kilo Brot und ein Kilo Zucker kaufen. Logisch, dass Mangelernährung weit verbreitet und Bettelei allgegenwärtig ist.
Vor der Reise gründet «Miss Jemima» den «United Alpine Club Junior». An dessen Mitgliederversammlung am 14. Juli 1863 wird ihr folgende Aufgabe aufgebrummt: «Es wird beschlossen, Miss Jemima als die Künstlerin der Expedition zu bitten, in der laufenden Saison einen Bericht über die Wanderungen des Clubs zur Aufnahme in dessen Annalen zu verfassen; wobei die Veröffentlichung auf ihre Kosten zu erfolgen hätte. Der Club ist für die Meinungen einzelner Mitglieder nicht haftbar zu machen.»
Da braucht Miss Jemima definitiv keine Feinde, wenn sie solche Kollegen hat.
Bitte lächeln – aber nicht zu enthusiastisch. Das gibt dann Falten. Zusammen mit dem «United Alpine Club Junior» posiert Miss Jemima als Dritte von links. Verwechslungsgefahr: Hierbei ist nicht der «Londoner Alpine Club» gemeint, ergo die erste Bergsteigerverbindung der Welt, die zum Vorbild aller anderen wird. Dieser ist ja auch ein reiner Männerclub.
Das sind also die Rahmenbedingungen. Vier Tage verbringt Miss Jemima nun im Berner Oberland. Vom 4. bis 6. Juli 1863. Was fängt sie mit diesem verlängerten Wochenende nun an?
Miss Jemima,
über den Staubbachfall in Lauterbrunnen
Da reisen wir mal nach Lauterbrunnen und dann so was: Ein Gewitter. Blitz und Donner. Gottlob gewähren uns die Einheimischen Unterschlupf. Nette Kerle. Leider ist beim schnellen Manöver die Achse der Kutsche gebrochen. Nicht weiter schlimm – wir freuen uns trotzdem, «durch das an Quellen reiche und von Felsen beschattete Tal zu fahren, um einen noch tieferen Eindruck von der Anmut der einen und der Erhabenheit der anderen zu erhalten.»
Nach unserem «aus sieben Gängen bestehenden Mittagsmahl» sehen wir ihn endlich: «Diesen kühnen, diesen hellen, diesen himmelsgeborenen Wasserfall!»
Der Weg vom Staubbachfall zum Gasthaus ist von Ladengeschäften mit Holzschnitzereien und, na ja, leider auch von jugendlichen Bettlern gesäumt, die uns eine Blume oder ein Kieselstein verkaufen wollen. Denen können wir aber gekonnt entwischen.
Miss Jemima,
über den Alphornspieler auf der Wengernalp
Die Kutsche lassen wir in Lauterbrunnen. Zu Fuss geht’s weiter. Den Alpenstock nicht vergessen. Den Bergführern erteilen wir noch schön eine Abfuhr. Die Preise sind einfach zu hoch (da hat sich in der Wahrnehmung der Schweiz bis heute nicht viel geändert). Wie nett, ein ehrgeiziger Führer senkt doch noch seinen Preis. Dann engagieren wir ihn doch glatt als Bergführer und Träger. Nicht schlecht, geschickt schnürt er «unsere gesamte Habschaft auf eine Art Holzstuhl, den er auf die Schultern» nimmt. Es lebe der nostalgische Rucksack aus Holz.
Da haben wir uns verschätzt. Dachten wir doch naiv, dass der Abstieg nach Grindelwald nur eine Stunde dauern wird. Trotzdem erreichen wir unser Ziel: Grindelwald. Der «despotische Somnus» packt uns aber nach diesen Strapazen ohne Vorwarnung.
Die Wengernalpbahn ist heute ein beliebtes Fotosujet – sie erleichtert ja auch den Aufstieg um ein Vielfaches.
Miss Jemima,
über den Bergführer in Grindelwald
Der Bergführer wartet schon. Die beiden Grindelwaldgletscher sollen erkundigt werden. Dann kommen wir zur Stelle, die hinab zum Gletscher führt – also «zwei Planken aus Tannenholz mit Querstreben», die als Stufen dienen sollen. Unter ihnen gähnt der Abgrund. Vertrauen ist alles. Das klappt nicht bei allen Clubmitgliedern. Einige betrachten den Gletscher doch lieber aus der Ferne. Für die Tapferen folgt ein wagemutiger Streifzug durch die Gletscherspalten. Nebenbei begegnen wir noch einem Mitglied «jenes anderen Alpine Club» im Kletterkostüm, en route zur Jungfrau.
Die Kleidung der viktorianischen Gruppe ist wie geschaffen für einen Ausflug in die Berge. So als Vergleich zu den heutigen «modernen» Outfits.
Heute macht ganz einfach die Luftseilbahn Pfingstegg für uns den Aufstieg. Ohne Anstrengung.
Miss Jemima,
über die erste Pauschalreise durch die Schweiz
Der Pioniergruppe von Thomas Cook folgen unzählige weitere Reisende. Die bringen Wertschöpfung und begünstigen die Entwicklung der Schweiz zu einem Land von Wohlstand, Sauberkeit und Pünktlichkeit.
Fotos: Jungfrau Region; Miss Jemimas Journal
Story: André Wellig
Frühling 2018
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