Jeder zehnte Mann wurde vertrieben. Gnadenlos. Es waren die Zeiten des Königs Cisbertus in Schweden und des Grafen Christoffel von Ostfriesland. Keine Angst - es macht nichts, wenn wir die Herren nicht kennen. Viel wichtiger ist: Es gab eine Hungersnot – und zwar eine fürchterliche. Egal ob reich oder arm, jeder zehnte Mann musste mit seinem Hab und Gut eine neue Bleibe suchen. Das Los entschied.
Zuerst wurde es alle Monate gezogen – das ging ja noch. Die fiese Hungernot liess aber nicht nach. Schreckliche Sache. Dann wurde alle Wochen gezogen. Wenn dabei mal einem das Losglück holt blieb.
Die Nornen, die schicksalsbestimmenden Wesen der nordischen Mythologie, werden in dieser Zeit wohl ziemlich viel Post bekommen haben.
Somit war klar: Es brauchte Führungskräfte. Swicerus und Remus, beide aus Schweden, und Wadislaus, aus der Stadt Hasnis (welche angeblich zwischen Schweden und Ostfriesland liegt) nahmen sich dieser Herausforderung an. Na dann, gutes Gelingen. Unter der Führung der neuen Hauptleute marschierte die Menschenmenge an den Rhein. Doch dort wurden sie bereits erwartet – ohne Gastfreundschaft. Zwei französische Herzöge versperrten nämlich den Vertriebenen den Weg. Die Franzosen hatten aber keine Chance. Siegreich ging die Wanderung für die Ausgelosten weiter.
Auf den Säumerwanderungen, die noch heute im Haslital angeboten werden, bekommen wir sehr gut ein Gefühl, was es bedeutete, mit Sack und Pack zu vereisen – natürlich ohne die ständige Gefahr zu verhungern oder von einem feindlichen Heer überrannt zu werden.
Unaufhaltsam wie ein Güterzug kamen sie in das Land am «brochen birg» oder «Freckmünd». Heute besser bekannt unter dem Namen: «Pilatus». Dazumal noch zum Herzogtum Österreich gehörig – gemäss Sage. Das Gebiet erinnerte die Verbannten so stark an ihre Heimat, dass sie kurzum dortblieben. Der Graf von Habsburg erteilte ihnen freundlicherweise die Erlaubnis. Ein gutmütiger Kerl.
Wadislaus nahm aber seinen Heerhaufen und zog in das «tal enent den swarzen bergen». Oder anders gesagt: Er hat den Weg über den Brünig gewählt und nahm das Land oben an der Aare ein. Er benannte die neue Heimat nach der ursprünglichen. Und zwar: Hasnis. Schöne Erinnerung. Daraus entwickelte sich später der Name Hasli. Tja, Überraschung. Auf die Verbindung wäre jetzt nun wirklich niemand gekommen.
Auf dem Ballenberg werden wir in der Zeit zurückversetzt. Wadislaus hätte sich in diesem Freilichtmuseum sicher puddelwohl gefühlt.
Hans Dauwalder,
befasst sich zeitlebens mit der Geschichte des Haslitals
Die Sage hat damit aber kein Ende gefunden. Die Jahre verflogen. Der Schauplatz verlagerte sich nach Rom. Dort erhoben sich gerade die Heiden gegen den Papst und die römischen Kaiser. Es gab zu dieser Zeit sogar zwei: Theodosius der Jüngere und Honorius. Boten wurden ins Aaretal gesandt, um Beistand anzufordern. Dort soll ja angeblich ein tapferes Volk von Christen sesshaft geworden sein. Die Antwort: Die Oberhasler marschierten in den Krieg.
Rühmliche Heldentaten der Hasler vor den Toren Roms: Da hätte nicht einmal Hannibal mit seinen Elefanten eine Chance gehabt. Die Haslikrieger drangen von der Milvischen Brücke gegen die Engelsburg vor und behaupteten die Tiberbrücke. Heldentat.
Das gibt eine saftige Belohnung. Das heilige Reich hat zum Dienst aufgerufen und die Hasler sind gefolgt. Sie wünschten sich nun, dass ihnen als Zeichen und Banner der kaiserliche Adler mit den Farben des Reiches verliehen werde. Sie beanspruchten aber nicht den doppelköpfigen Adler, sondern nur den gekrönten, einköpfigen Wappenvogel. Der Wunsch wurde von den beiden Kaisern zögernd gewährt. Ebenso wurde auch die Freiheit der Hasler mit Brief und Siegel anerkannt. Und klar: Reichlich Geschenke gab es auch noch.
Auch wenn sich vielleicht nicht alles genau so zugetragen hat, ist die Geschichte doch gut erzählt. Schauen wir doch mal, wo der historische Kern liegt. Oder ist alles Bockmist?
Geschätzt wurde sie von den Oberhaslern allemal. Die liebe Herkunftsgeschichte. Da haben die Hasler glatt den Frutiger, als diese im Jahr 1505 zu Besuch waren, aus der Chronik vorgelesen, «wie sy daher kommen sygen uβ dem Land Schweden und Norwegen, von groβem Hunger alweg der X. Man mit synem Huβ’gsind us eignem vatterland schweren müssen, kamint jn das Land Haβle.» Coole Story. Das dachten auch die Frutiger. Die waren davon dermassen imponiert, dass sie sich kurzum selber als ehemalige Friesen zu bezeichnen begannen.
Der Ostfriese schlecht hin. Ob die Hasler mit Otto Waalkes verwandt sind? Gelehrte sollen Ähnlichkeiten in Gesichtszügen, Schädelform und Bekleidung der Hasler mit gewissen nordischen Provinzen entdeckt haben. Ist da nicht eher eine bereits vorgefasste Meinung untermauert worden?
Wir glauben, da sind wir uns einig. Auch ohne fundiertes Wissen in Geschichte: Die Erzählung beinhaltet doch eine ganze Reihe von Unmöglichkeiten. Wir haben von Kämpfen gegen die Heiden in spätrömischer Zeit, ergo um das Jahr 400, gelesen. So weit so gut. Doch gleichzeitig noch französischen Herzögen und einem Grafen von Habsburg Rollen zuteilen? Das wird eher kompliziert. Ob da wohl eine Zeitmaschine im Spiel war? Auch eher unwahrscheinlich. Marty McFly gab es definitiv noch nicht - auch nicht in schwarz-weiss.
Das Gebiet am Vierwaldstättersee und natürlich das Haslital gehörten auch nicht ohne weiteres zum Herzogtum Österreich. Den Christenglauben der Vertriebenen und ihre grosse Anzahl hinterfragen wir jetzt mal nicht. Passt ja so schön ins Schema. Und da wären noch die Friesen. Ein germanischer Stamm, welcher einfach keine Lust am Wandern hatte und in Nordwestdeutschland geblieben ist.
Es werden sogar Stimmen laut, dass das Haslital lange vor der Völkerwanderung ständig besiedelt worden war. Ziemlich gewagt. Es wurden zwar Bronzegegenstände, eine aus der Keltenzeit stammende Silbermünze und römische Kaisermünzen gefunden – jedoch nur spärlich. Eine Vermutung, nicht mehr. Die Funde zeigen aber, dass bereits in frühesten Perioden ein Verkehr über die Alpenpässe stattgefunden hat. Sicher ist jedoch eine spätere germanische Einwanderung. Es mögen zwar Kelten und Römer im Aaretal ansässig gewesen sein, aus den Ortsbezeichnungen geht aber eindeutig hervor, dass im Oberhasli die Besiedelung germanisch ist.
Wenn wir die Höfe, Weiler und Dörfer anschauen, gehen die einwandfrei auf die Zeit der germanischen Besiedelung zurück. Woran wir das sehen? An den Ortsnamen, die bestimmte Endungen wie -ingen, -hausen, -wil und -wiler tragen. «Meiringen» ist da wohl das beste Beispiel.
Vom Tal ging es hoch auf günstig gelegene Eggen, Vorsprünge und Abhänge. Wald wurde gerodet und es entstanden Weiler mit ebenfalls alemannisch klingenden Endungen: -rüti (Reuti), -schwendi (Schwendi), -weid (Urweid), -maad (Obermaad). Typisch klingen auch die Lagebezeichnungen wie Bidmi, Sattel oder Hohfluh.
Der allbekannte, älteste Hasler ist zwar ein reinrassiger Romane. Dies ändert aber nichts an der späten Besiedlung des Haslitals durch die Germanen. Da reicht als Argumentation auch die Abwandlung aus dem römischen Windnamen «favonius» nicht aus.
Noch ein anderer steinalter Hasler kann daran nichts ändern: der Kirchet. Auch er ist Romane. Nicht die Kirche in Meiringen ist der Namensgeber. Auch trug er seinen Namen schon lange bevor in Innertkirchen (innerhalb des Kirchen) ein Gotteshaus erbaut worden ist. Kirchet bedeutet «gewundener Weg». Das Wort «zirka» steckt darin, welches auf Latein «kirka» (ringsum) ausgesprochen wird. Aus «via circinans» oder einer ähnlichen Form hat er sich endlich entwickelt.
Aare, Fontanen und Rüsch (wie das Gadmerwasser früher genannt wurde) sind auch bekannte romanische Gewässernamen. Auch schon zu Römerzeiten wurde die Grimsel überquert. Sie hat daraufhin ihren romanischen Namen behalten. Ebenso ist Susten eine romanische, in der Säumerei übliche Bezeichnung.
Die Einwanderungssage spricht von Schweden und Friesen.
Sehr wahrscheinlich sind sie von Norden gekommen – die Vorfahren der Oberhasler. Davon können wir mit ziemlicher Sicherheit ausgehen. Deswegen sprechen wir auch von einer alemannischen Einwanderung (mit ostfriesischem Einschlag) über den Brünig.
Aber auch eine alemannisch-burgundische Einwanderung durch das Aaretal hinauf müssen wir in Betracht ziehen.
Eine langobardisch-burgundische Einwanderung über die Grimsel könnte auch möglich gewesen sein – ist jedoch eher unwahrscheinlicher.
Von MünsINGEN, LeissIGEN, DärLINGEN, MerLIGEN über WillIGEN, MeirINGEN, BrünIGEN hinüber ins Oberwallis zu ReckINGEN, GlurINGEN und SelkINGEN. Von solchen Namen gibt es noch viele mehr. Die liebe Sprachforschung macht’s möglich. Wir können den Weg der Alemannen nachverfolgen. Und dieser Weg kam von Norden. Warum? Weil das Oberwallis deutschsprachig ist. Das wissen wir, klar. Ist jetzt nicht gerade DIE Erkenntnis. Dieses Land an der Rhone stösst aber überall an romanisches (sprich: französischsprechendes) Gebiet. Komisch. Einzige Erklärung: Deutsche Ansiedler besetzten das Oberwallis – und zwar von Norden her über die Grimsel. Et voila. Da haben wir den historischen Kern der Sage.
In den Namen auf -ingen versteckt sich ein germanischer Ansiedlername. So bedeutet «Hilterfingen» zum Beispiel «bei den Leuten des Hiltolf». Hiltolf gewann für sich eine Siedlung am unteren Thunersee.
Bei Meiringen lässt sich die Herkunft nicht genau bestimmen. Der Name kann «bei den Leuten des Megiher» bedeuten. In solchen Namen können aber auch Amtsbezeichnungen verborgen sein. Hier mit der Bedeutung «bei den Leuten des Meiers». Der «Meier» führte die hohe Gerichtsbarkeit aus.
Hans Dauwalder,
befasst sich zeitlebens mit der Geschichte des Haslitals
Nehmen wir die Amerikaner mal in Schutz. Nicht nur sie können die Schweiz und Schweden nicht unterscheiden. Das dürfte schon zurzeit des Basler Konzils (1431-49) ein grosses Problem gewesen sein.
Die Länder- und Völkernamen klangen ja auch in lateinischer Schrift des Mittelalters überaus ähnlich: Swicia: Suecia / Switenses: Swetenses. Und dann noch diese Sage von der nordischen Herkunft... verwirrend.
Nichtsdestotrotz: Das Lokal- und Selbstbewusstsein der Oberhasler wurde durch die Sage mächtig gestärkt. Und das zählt. Es muss ja nicht immer alles historisch belegt sein.
Fotos: Jungfrau Region
Story: André Wellig
Frühling 2018
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