Eben dieses hölzerne Ding mit Kufen, auf dem wir gekrümmt wie ein «Gipfeli» einen Hang runterrutschen können. Wir kennen auch die grössere Version, den sogenannten Hornschlitten. Damit transportieren wir aber heute nicht mehr Holz oder Heu. Das war einmal. Jetzt fahren wir Hornschlitten-Rennen.
Logisch, natürlich kommen wir besser voran, wenn wir diese hölzernen Geräte auf Oberflächen mit geringer Reibung einsetzen. Sprich: Auf Schnee oder Eis. Einfach so, dass es mal gesagt ist. Ebenso wäre es von Vorteil, wenn wir ein abschüssiges Gelände auswählen – denn dann kommt die Erdanziehungskraft ins Spiel. Und die hat es in sich. Der Schlitten wird auf seinen Kufen dramatisch bergab gleiten. Hingegen ist dieses newtonsche Axiom recht mühsam, wenn wir unten angekommen sind und wieder hochlaufen müssen. Wir können noch so lange am Fusse des Berges hocken bleiben – da passiert nichts. Stillstand. Das gilt übrigens auch beim Velogemel.
Es gibt bekanntlich mannigfaltige Arten von Schlitten: Eisschlitten, Hundeschlitten, Pferdeschlitten, Hornschlitten und noch viele mehr. Doch ein Velogemel wird selten erwähnt.
Tja, gute Frage. Fakt ist, dass wir in Grindelwald dem Velogemel überall begegnen. Zufall? Nein, nicht wirklich. Er dient nämlich im Winter der Fortbewegung – und das schon seit über 100 Jahren. Und zwar ausschliesslich in Grindelwald. Sonst nirgendwo.
Schön und gut, er sieht wie ein Fahrrad aus, irgendwie. Doch bei genauerer Betrachtung gibt es doch einige Unterschiede. Kleine, aber doch zentrale. Scheibenbremsen gibt’s nämlich keine. Die müssen wir selber mitbringen – am besten in Form unserer Füsse. Von Vorteil wäre noch, wenn unsere Füsse mit einem robusten Schuhwerk umgeben sind. Eine Gangschaltung fehlt natürlich auch. Logisch, wir wollen mit dem Ding ja auch nicht bergaufwärts fahren. Luft braucht dieser Gemel übrigens auch nicht. Die Reifen sind bekanntlich den Kufen gewichen. Und diese lassen sich nur schwerfällig aufpumpen. Aber ja: Ein Fahrrad ist erkennbar. Auch ohne viel Fantasie. Damit wäre der erste Teil der Bezeichnung «Velogemel» schon mal gerechtfertigt.
Es ist vielmehr eine Symbiose dieser beiden. Und da wir in Grindelwald einem Schlitten schlicht «Gemel» sagen, nennen wir dieses Gefährt eben auch Velogemel. Ist doch logisch. Und für alle, die es nicht wissen: In der Schweiz sagen wir einem Fahrrad auch Velo. Also: Velogemel. Passt doch perfekt.
Ergo ist ein Velogemel ein hölzernes Gestell mit zwei Kufen. Vorne versehen mit einer Lenkstange. Aufrecht sitzend wird mit den Beinen für das Gleichgewicht gesorgt.
Am 1. April 1911 meldet Christian Bühlmann (1872-1953) das Patent für den «einspurigen Lenksportschlitten» in Bern an.
Das eine bringt Verderben, das andere einen riesen Spass – und obendrein ist dieses Gefährt noch ziemlich nützlich.
Doch wieso sitzt Bühlmann nicht einfach auf einen Schlitten? Berechtigte Frage: Schlitten gibt es ja schon – er muss ja nicht zwingend noch etwas erfinden.
Tja, eine reine Conditio-sine-qua-non. Denn so viel steht fest: Ohne diese körperliche Einschränkung hätte es den Velogemel wohl nie gegeben. Den Anfang macht sein Vater. Dieser betreibt nämlich eine Sägerei. Aha, da können wir schon etwas erahnen. Folglich macht sich der Sohn mit demselben Handwerk vertraut. Er besucht die Schnitzlerschule, heiratet und erwirbt schliesslich 1898 eine Sägerei. Wo? Natürlich in Grindelwald – oder präziser gesagt: in der Schwendi. Dem zukünftigen Geburtsort des Veloschlittens.
Zu Fuss nach den abendlichen Proben der Musikgesellschaft in die Schwendi zu laufen, ist nun wirklich kein Thema für Bühlmann. Ein Zug fährt ja auch nicht. Und so ein gewöhnlicher Schlitten ist schlicht zu unbequem – besonders mit einer Gehbehinderung. Da gibt es nur eine Lösung: Der Velogemel muss her.
Von 1910 bis 1911 konstruiert Bühlmann den Veloschlitten. Für den Rahmen verwendet er Eschenholz und für die Kufen, Lenker und Sattel Ahornholz.
Bühlmann meldet es am 1. April 1911 an. Niemand kann nun seine Erfindung straflos kopieren. Er selber hingegen beginnt nun, den Velogemel serienmässig herzustellen. Natürlich ganz zu unserer Freude.
So ein Velogemel muss ausgefahren werden. Also: Ab auf die Bussalp.
Da kommt er auch schon. Unser Chauffeur. Pfeifend und lachend. Schön zu sehen: Dieser Mann hat definitiv Freude an seinem Job. Ist ja auch verständlich: In so einem Konvoi und mit lautem TüTaTo an den Gästen vorbeizufahren, muss doch einfach Spass machen. Wir zumindest sind begeistert. So kann es weitergehen.
Markus Guggisberg,
Chauffeur, auf die Frage, was zu tun sei, wenn er mit seinem Postauto vorbeifährt
Schön heroisch sitzen wir auf dem Velogemel. Auf der Geraden beschleunigt er ganz schön heftig. Gut, dass wir unsere Füsse haben. Denn Bremsen ist wichtig. Besonders vor einer Kurve. Oh doch. Kein Experimentieren. Weg vom Gaspedal. Denn das Gerät ist ziemlich empfindlich. Doch unser Vertrauen wächst allmählich – und jede weitere Kurve wird furioser.
Träume werden wahr. Ok. Zugegeben. Eher selten. Doch der Traum von einem Weltmeistertitel ist realistisch. Kein Scherz. Im Winter 1996 veranstaltet Grindelwald nämlich die erste Velogemel-Weltmeisterschaft. Der Start ist noch heute auf der Bussalp. Also, hier ist die Gelegenheit. Jeder darf mitmachen. Lassen wir unsere Träume wahr werden.
Auch aus Steinen, die uns in den Weg gelegt werden, können wir etwas Schönes bauen. Einfach mal der Gehbehinderung getrotzt. Reife Leistung, Christian Bühlmann.
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