Was spricht dagegen, untrainierte Gäste durch Felsmassive und Gletscher in ungezähmte Hochgebirgsregionen zu kutschieren und sie oben mit Speis und Trank zu verköstigen? Nun, seien wir mal ehrlich: Eigentlich spricht alles dagegen. Ende des 19. Jahrhunders ist die Schweiz zwar im Bergbahnfieber und es werden zahlreiche Bahnen gebaut – doch so hoch hinaus hatte sich noch niemand gewagt. Bis jetzt... Doch dann hat ein 54-jähriger Zürcher Textilunternehmer eine Idee und nimmt sich dem Projekt an. Ein Pionier und Visionär. Sein Name: Adolf Guyer-Zeller.
Nein, Guyer-Zeller ist kein Bruder des deutschen Romanciers Karl May - obwohl seine Nickelbrille und sein Bart die These nicht gerade unterstützen. Der Industrielle hat definitiv nichts mit Winnetou zu tun, es ist vielmehr die Jungfraubahn, die ihn beschäftigt.
Es liegen zur Erschliessung der Jungfrau bereits drei Projekte vor, die alle das Lauterbrunnental als Ausgangspunkt nehmen: Ingenieur Maurice Koechlin will die Jungfrauspitze mit einer in fünf Sektionen gestaffelten Bahn erreichen und ein Felsenhotel errichten. Alexander Trautweiler setzt auf vier voneinander unabhängige Drahtseilbahnen in Tunnels.
Das dritte Projekt von Eduard Locher, der die Pilatusbahn gebaut hat, soll Bahnwagen von 20 Meter Länge mit Druckluft durch Röhren in eisige Höhen befördern. Keines der drei Projekte schafft es bekanntlich bis zur Umsetzung.
Der Plan hat es in sich. Eine elektrische Eisenbahn soll vom Lauterbrunnental via Rottalhütte auf die Jungfrau gebaut werden. Inklusive Gipfelhotel versteht sich. Und all das innerhalb von zwei Jahren. Nicht schlecht. Künftig solle jeweils im Sommer ein 85 000 Kerzen starkes Licht vom Maschinenraum in der Höhe bis hin zum Strassburger Münster zu sehen sein.
Diese Pläne beschreibt der Redaktor Emil Frey unter dem Pseudonym S. Ch. Windler im Artikel «Von der Jungfrau» in der zweiten Abendausgabe der NZZ. Die Zeitung erscheint am 1. April 1886. Scherzbold.
Guyer-Zeller hat wohl nicht auf das Datum des Artikels geachtet und fängt zehn Jahre später mit dem Bau der Jungfraubahn an. Herausforderung angenommen. Ganz am Anfang steht dabei eine Wanderung. Kein Scherz.
Und da dampft sie vorbei. Es ist Sonntag, der 27. August 1893. Guyer-Zeller wandert mit seiner Tochter oberhalb von Mürren. Dann sieht er sie: Die Wengernalpbahn. Geistesblitz. Plan. Jungfraubahn.
Es ist immer noch Sonntag. Im Zimmer 42 des Kurhauses Mürren skizziert Guyer-Zeller Mitten in der Nacht die Linienführung der zukünften Jungfraubahn auf ein Blatt Papier. Sein Geistesblitz muss er zwingend festhalten.
Der Plan ist heute um ein Vielfaches vergrössert und in Messing gegossen, das Kernstück der Alpine Sensation auf dem Jungfraujoch. Dieses über Nacht entstandene Skizzenblatt bleibt die Grundlage für den Bau der Jungfraubahn. Im Nachhinein werden lediglich unwesentliche Änderungen vorgenommen. Hut ab vor dieser Leistung.
Was ist nun seine Idee? Ganz einfach: Seine Bahn ist von Anfang an als elektrisch betriebene Zahnradbahn projektiert, welche nicht in Lauterbrunnen, sondern bei der Kulmstation der Wengernalpbahn auf der Kleinen Scheidegg beginnt. Die Bahn soll auf dem ersten Abschnitt bis zum Eigergletscher oberirdisch verlaufen. Danach geht es in einem Tunnel durch Eiger und Mönch zur Jungfrau. Völlig wetterunabhägig. Genial.
Wer hätte es gedacht: Es gibt Widerstand gegen das Projekt. Nicht nur Umweltschützer, sondern auch Ärzte und Professoren wollen ihre Bildung demonstrieren. Allen voran der Physiologe Hugo Kronecker. Um die Reaktion des menschlichen Körpers auf die ungewohnte Höhe zu testen, schlägt er sogar vor, Testpersonen per Fesselballon aufsteigen zu lassen. Sympathische Medizin. Die Regierung lehnt ab – aus Kostengründen versteht sich.
Wo ist bei einer Bahn auf den Gipfel der Jungfrau bitte der praktische Nutzen als Verkehrsverbindung? Es gibt keinen. Damit müssen sich die Kritiker zufriedengeben. Ob Gustave Eiffel wohl mit ähnlicher Kritik zu tun hatte? Denn auch bei seinem Projekt suchen wir den praktischen Nutzen – es beflügelt aber wie die Jungfraubahn die Fantasie der Menschen. Der Technik sind halt keine Grenzen mehr gesetzt. Und klar: Wieso machen wir es? Weil wir es können.
Hugo Kronecker,
Physiologe, über Massnahmen gegen das Höhenlungenödem
Der Bau der Jungfraubahn beginnt. Es ist der 21. Juli 1896. Nicht nur Gleise werden verlegt. Etwas Wichtiges fehlt noch. Die Bahn soll ja schliesslich mit Elektrizität betrieben werden. Weg mit dem Dampf. Da braucht es noch Kraftwerke. In Lauterbrunnen und Burglauenen wird sich dieser Sache angenommen.
Da hat sich Guyer-Zeller nicht lumpen lassen. Mit über 400 geladenen Gäste fahren die ersten Züge zur pompösen Eröffnungsfeier der Teilstrecke Kleine Scheidegg - Eigergletscher. So ein Event bringt natürlich auch etwas Kleingeld in die Kasse. Gut gepokert. Und dies zwei Jahre nach Baubeginn. Er hält bis anhin, was er verspricht.
Forza Italia. Bis zu 200 Leute leben während der Bauzeit am Eigergletscher, darunter rund 160 Italiener. Die oberirdische Teilstrecke ist geschafft. Die Vorbereitungen für den Tunnelbau laufen nun auf Hochtouren.
Guyer-Zeller besichtigt mit seiner Familie die Baustelle am Eigergletscher. Seine Familie wird wohl auch bemerkt haben, dass es noch keine groben Maschinen gibt. Schaufel, Pickel und Muskelkraft sind die einzigen Arbeitsgeräte.
Eine Kolonie entsteht am Eigergletscher: Wohnbaracken, Werkstätten, Materialschuppen, Verwaltungsgebäude und, nicht zu vergessen, ein Backofen, der täglich frisches Brot liefert. Noch heute ist dort die Betriebszentrale der Jungfraubahn untergebracht.
Dies macht den ganzen Bau nun definitiv logistisch zu einer Herausforderung. Dann heisst es wohl: Lager füllen und zwar bevor die weisse Pracht hereinbricht. Lebensmittel wie auch Baustoffe müssen schön am Eigergletscher aufgestapelt werden. Und klar, Wasser brauchen die Arbeiter ja auch noch. Kein Zug, kein Wasser. Dafür gibt es aber jede Menge Schnee, der geschmolzen werden kann. Das Schmelzwasser kann aber blöderweise nur zum Kochen und Waschen gebraucht werden. Trinken geht nicht.
Gut gibt es noch die zuverlässigen Polarhunde, die für den Transport nach Wengen und zurück eingesetzt werden können. Dafür wird eigens eine Kolonie am Eigergletscher aufgezogen. Ganz schön schnuckelig.
Heute kämpft sich die Jungfraubahn problemlos durch den Schnee.
Lasst uns einen Tunnel bauen. Mittlerweile haben die Arbeiter sogar bessere Gerätschaften. Die schiere Muskelkraft wird teilweise durch elektrische Bohrmaschinen ersetzt. Sieben Jahre lang blieb die Station Eismeer die Endstation der Jungfraubahn.
Der ist ziemlich damit beschäftig, die Finanzierung sicherzustellen. Um Engpässe zu überbrücken, sollen Gäste auf die Stationen Eigerwand und Eismeer transportiert werden (sobald diese erschlossen sind). Mit dem Erlös soll dann oben weitergebaut werden.
Ebenso dreht er fleissig seine Runden und geht auf Kontrollgang. So kostet er selbst von der Suppe, dem Fleisch, dem Gemüse, dem Brot und dem Wein. Die Nahrung für die Arbeiter muss ja schliesslich gut und kräftig sein. So ein Tunnel zu buddeln, kann ja noch anstrengend sein. Da lässt er auf der Arbeit auch schon mal gerne einige Goldstücke liegen. Für ein Feierabendbier soll es reichen.
Weniger als ein Jahr ist um und die Tunnelstation Rotstock kann schon in Betrieb genommen werden. So kann es weitergehen. Über einen Felspfad kann sogar der Rotstock bestiegen werden. Der Rotstock-Klettersteig belebt dieses Erlebnis noch heute aufs Neue.
Die oberirdische Teilstrecke ging ohne Probleme über die Bühne. In einem Tunnel zu arbeiten, ist aber eine andere Angelegenheit. Stromausfälle beeinträchtigen immer wieder das Bohren und den Betrieb der Lokomotiven. Klar, geologische Probleme sind auch an der Tagesordnung. Über die Finanzierung reden wir erst gar nicht. Harte Arbeitsbedingungen. Doch Guyer-Zeller behält den Überblick.
Dr. Friedrich Wrubel,
Inspektor der Jungfraubahn, über den Durchschlag des Tunnels zur Eigerwand
Ein Jahr zum vergessen. 1908. Die Arbeiter kommen nur 400 Meter weit voran. Das ist eher bescheiden. Und dann muss ja noch dieses Sprengstoffdepot mit 30 000 Kilogramm Dynamit explodieren. Was für ein Knall. Da hat sogar Deutschland noch etwas davon.
Vier Wochen nach dem Durchstich des Eigerwandstollens stirbt am 3. April 1899 unterwartet rasch Guyer-Zeller. Er ist knapp 60-jährig. Er wird die Schweizerfahne nie auf dem Gipfel der Jungfrau wehen sehen. Was jetzt? Die Jungfraubahn wird langsamer, aber sie kommt nicht zum Erliegen. Die Italiener bohren weiter. Vier Jahre dauert es. Erst im Sommer 1903 wird die Station Eigerwand eingeweiht. Dazwischen liegt das Stollenloch, über welches das Gestein entsorgt wird. Die Mineure führen den Tunnel zur Südseite des Eigers. Auf 3160 Meter erfolgt 1905 der Durchstich zur Station Eismeer.
Die Station Eismeer dient 1905 als vorläufige Endstation und wird auch entsprechend bewirtschaftet.
Die erste elektrische Restaurationsküche öffnete mit der Haltestelle im Eismeer. Sie blieb bis 1924 in Betrieb.
Es gibt am Eismeer nicht nur ein Wartesaal und ein Restaurant, sondern auch Schlafzimmer für Touristen.
Dieser Ausgang ist wahrlich geschaffen für den Ski- und Schlittelsport. Hier starten die legendären Eismeer-Skiabfahrten. Heute ist sie aufgrund des Rückzugs der Gletschermassen kaum mehr zu bewältigen.
Die Station am Eismeer ist eröffnet. Das Geld aufgebraucht. Der Bau gerät ins Stocken. Dann müssen wohl die ursprünglichen Pläne von Guyer-Zeller geändert werden. Unweigerlich. Vom Bahnende sollte es bis zum Gipfel der Jungfrau mit einem Lift weitergehen. Knapp 100 Meter lang sollte dieser sein. Das wird nun nichts. Es wird nicht mehr der Jungfraugipfel als Endstation anvisiert, sondern das Jungfraujoch auf 3454 Meter über Meer. Die Strecke beträgt 9,3 Kilometer.
Für ein besseres Klima versucht die Bauleitung «fast» alles. So gibt es für jeden Arbeiter eine Flasche Rotwein am Tag. Na dann Prost.
Die Arbeitsbedingungen zehren an den Kräften der Arbeiter und führen zu Konflikten. Acht Mal wechselt die Bauleitung und 30 Mitarbeiter müssen mit ihrem Leben bezahlen – mehrheitlich wegen Sprengunglücken. Das lassen sich die italienischen Arbeiter natürlich nicht gefallen und sie treten nicht weniger als sechs Mal - wer hätte es gedacht - in den Streik.
Tageslicht. Der Durchbruch ist geschafft. Am 1. August 1912 weht zum ersten Mal die Schweizerfahne auf dem Firnfeld zwischen Jungfrau und Mönch. Der Gipfel wird nicht erreicht. Die Bahn bleibt unvollendet. Aber eben: Wer so attraktiv ist, braucht keinen Gipfel als Endstation.
Fotos: Jungfrau Region, Jungfraubahnen
Story: André Wellig
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